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(Artikel ohne Fotos und Zwischenüberschriften)

 

Jürgen Behring

 

Nüchtern gut leben –

 

Die Heldenreise der Abstinenz

 

Männer am Abgrund zur Suchtfalle

 

 

Männer am Abgrund zur Suchtfalle

 

Nüchtern gut leben – Die Heldenreise der Abstinenz

Eine Männergruppe in einer Suchtklinik, die Nagelprobe für eine Idee.

 

Ein Interview von Jörg M. Hirsch mit Jürgen Behring.

 

Nicht jeder Mann hält dem wachsenden Erwartungs- und Veränderungsdruck unserer Zeit und unserer Gesellschaft psychisch stand. Funktionieren, durchhalten, das Gesicht wahren, Anpassen, Leistung zeigen, mit den Frauen klar kommen… . Aber wohin mit dem Stress; dem Druck und dem Frust. Ein Ventil muss her. Aus Gedanken wird Tat, aus der Tat Gewohnheit, aus der Gewohnheit Schicksal. Wenn dies mit Drogen einhergeht – Sucht!

 

Die Männerszene hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. Es gibt Herrn Leimbach für die ganz harten Jungs und für die ganz Weichen ruhige Gesprächskreise. Diese sind oft selbst organisiert und meist sehr unaufgeregt.

 

Es gibt lange Initiationen in der Wildnis und die „Instant Initiation“ des MKP e.V. an einem Wochenende. Gerne bedient sich eine Initiation einer „Heldenreise“ um dem jeweiligen Mann, der diese antritt herauszufordern und für das Leben des „wahren Mannes“ einzuschwören und vorzubereiten.

 

Jürgen Behring hat 2006 initiatisch-phänomenologische Arbeit bei ZIPAT (Zentrum für Initiatisch-Phänomenologische Arbeit und Therapie) zunächst durch die Teilnahme am Männerprojekt „Heldenreise des Mannes“ kennengelernt und unter Federführung von Rainer Koch(-Möhr) schließlich zunehmend Arbeitsweisen in die männerspezifische Drogentherapie im Männertherapiezentrum Fachklinik Flammersfeld (Weserwald) übernommen. 2015 kam ihm die Idee, den Titel „Nüchtern gut leben - Heldenreise der Abstinenz“ für ein Ideenkonzept verschiedener methodischer Elemente und Vorgehensweisen in seiner Arbeit als Suchttherapeut zu wählen.

 

Jürgen Behring:

Ist ein Mensch mit der eigenen Suchterkrankung konfrontiert, kann er nicht mehr davon laufen. Er muss sich Fragen stellen, angefangen mit „Bin ich wirklich süchtig?“ Und wenn er es ist, lässt es sich damit noch gut leben? Unzählige Süchtige haben bewiesen: Auch wenn nicht alles gut ist, lässt es sich dennoch „Nüchtern gut leben“. Es stellen sich jedoch zentrale Herausforderungen auf dem Weg in die Abstinenz und bei der Aufrechterhaltung eines stabilen Lebens.

 

Abstinente Suchtkranke leben alltäglich vor, welche heldenhaften Aufgaben zu meistern sind, um in einer von Suchtverhalten geprägten Gesellschaft der Suchtspirale nach unten zu entrinnen. Wo Beliebigkeit im Umgang mit Suchtmitteln herrscht, einfacher Erfolg und Lustgewinn, sowie „Makellosigkeit“ und „Leidvermeidung“ propagiert werden, ist es schwer, Kompetenzen zu gewinnen und zu bewahren, um nüchtern gut zu leben. Wer sich der eigenen Konflikte, Möglichkeiten und Grenzen nicht hinreichend bewusst ist, läuft Gefahr ins offene Messer der Sucht zu laufen oder wieder rückfällig zu werden.


Hirsch:

  • Wie sind Sie auf die Idee Ihrer Therapie gekommen?

In meiner ehemaligen Klinik in Bad Essen hatten wir einen ehemaligen Therapeuten, der bis 14 Tage vor seinem 85.Geburtstag wöchentlich eine „Rückfallverhütungsgruppe“ geleitet hatte. Er war langjährig trockener Alkoholiker, ein Mann mit Charisma und klaren Worten – wie viele langjährig trockene Süchtige. Wir pflegten einen herzlichen, von gegenseitigem Respekt getragenen Kontakt. Ihm schrieb ich zum Abschied auf einer Karte sinngemäß: „Conny, Du hast den Patienten vorgelebt, dass sich gut leben lässt, auch wenn nicht alles gut ist.“ Conny hatte in seinem Alter schon einige gesundheitliche Komplikationen überstanden. Als ich seine Gruppe für eine Weile fortführen sollte, entstand daraus für mich der Titel: „Nüchtern gut leben.“ Mich stört schon seit einiger Zeit der Begriff „Zufriedene Abstinenz“. Klingt so vernünftig. Die Realität eines Suchtkranken ist jedoch so, dass Abstinenz eben nicht gleich Zufriedenheit bedeutet. Und es kann sich zum Beispiel durchaus gut anfühlen, einen „Scheißtag“ oder „Scheißzeiten“ abstinent bewältigt zu haben. Aber wie bewältigt man solche Zeiten? Da heißt es nüchtern zu handeln – handlungsfähig zu bleiben - und „Nüchternheit“ als Qualität wertzuschätzen.

  • Sie sprechen in Ihrem Konzept die Konflikte der Seele nach OPD an.
    (Operationalisierte psychodynamische Diagnostik)
    Das hat mich sehr angesprochen. Machen Sie mit jedem Mann in Ihrer Gruppe diese Diagnostik und wie binden Sie das Ergebnis in Ihre Arbeit mit dem Mann ein?

Ich stieß auf Parallelen der Themen der Archetypen von ZIPAT, mit den Konflikten aus der OPD Diagnostik, sowie den psychosozialen Grundbedürfnissen von Klaus Grawe, die von Dr. Konrad Stauss insbesondere um das Bedürfnis nach Spiritualität erweitert wurden. In der Therapie mit meinen Bezugsgruppenpatienten hat die Diagnostik von OPD-Konflikten Bedeutung und sie finden Eingang in meine Abschlussberichte. Für das aktuelle Konzept des Behandlungspfades, sowie grundsätzlich mein initiatisch-phänomenologisches Verständnis bieten sich die Konflikte an, um Ambivalenzen bei den Patienten ins Bewusstsein zu rücken, z.B. alleine in der Formulierung „Kapitulation – von der Freiheit, nicht mehr trinken zu müssen, bzw. Freiheit von der Macht der Drogen.“ Hier geht es um die Ambivalenz von „Autonomie und Abhängigkeit“, bzw. „Kontrolle und Unterwerfung“. Ist ein Mensch erst einmal suchtkrank, hat er eben die Freiheit verloren, ein Suchtmittel folgenlos zu konsumieren. Viele Suchtkranke erleben Abstinenz zu Beginn als Verlust und bleiben am Anfang einer Therapie in der Trauer hängen, bzw. wehren sie ab, vielleicht kann ich ja noch einmal …“ Oder sie können sich einfach nicht vorstellen, ihr Leben lang nicht mehr zu konsumieren. Durch die Thematisierung der Ambivalenzen, Umdeutung der Kapitulation und Abstinenz versuche ich, den Patienten neue Bedeutungszusammenhänge zu erschließen. Das kam bisher ganz gut an.

 

  • Herr Behring, Sie binden auch das 12 Schritte Programm der AA Gruppen in Ihr Konzept mit ein. Verlangt das von den Männern nicht eine gewisse Akzeptanz des Glaubenssystems der Kirche? Hat der „Held“ bisher alles alleine bewältigen und selbst Verantwortung übernehmen müssen, bittet er nun, „Gott“ ihm den Makel der Sucht und die Charakterfehler zu nehmen. Ist das kein Widerspruch?

Mein Konzept ist inspiriert vom 12-Schritte Programm und knüpft an Elemente an, insbesondere an die Begriffe „Kapitulation“ und das „Nur für heute“. Ich empfehle keinen „Gott“ – das 12 Schritte-Programm vom Ursprung definiert „Gott“ auch ausdrücklich als „Höhere Macht, größere Kraft“ – und ist auch nicht kirchlich gebunden.

 

Unter dem Thema „Sucht-Sinn-Spiritualität“, dass ich für Selbsthilfegruppen auch schon als Wochenendseminar angeboten habe, arbeite ich mit den Patienten am Themenkreis Sinn, Spiritualität, Werte. Was trägt uns, wenn uns nichts mehr trägt, ist eher die Frage. Mir ist wichtig, die Patienten zu inspirieren, sich mit Fragen zu beschäftigen, sich neue Lebensthemen und damit Sinngebung zu erschließen, bzw. bisherige Spiritualität und Sinngebung zu erweitern oder zu vertiefen. Natürlich sollten aus meiner Sicht Süchtige schon einmal vom 12-Schritte Programm gehört haben. Dafür ist seine Bedeutung für die Suchthilfe, die Selbsthilfe und für unzählige abstinente Suchtkranke viel zu groß. Es ist aber letztlich nur ein Zugangsweg in die Abstinenz und: zu Spiritualität.

 

Und insbesondere der Begriff „Gott“ ist schon mit so vielen Bedeutungen und Einengungen befrachtet, dass er für viele Süchtige mit oft sehr negativen Erfahrungen in dieser Beziehung eher hinderlich ist. Ich möchte den Blick der Patienten weiten, nicht einengen. Dass ich mich selbst als Christ verstehe, kann dann vielleicht mal Thema sein, aber für mich ist auch meine Spiritualität eher ein Weg der Erfahrung und nicht des rechten Glaubens.
 

  • Vaterhunger ist ein großes Thema bei Männern, die in der heutigen Gesellschaft oft in Abwesenheit von männlichen Vorbildern heranwachsen müssen. Welche Rolle spielt der Vater in Ihrer Therapie.

Im Männertherapiezentrum Flammersfeld haben wir „Vater und Sohn Wochen“ durchgeführt. Ich durfte das Konzept von Rainer Koch mit entwickeln und umsetzen. Dazu habe ich anlässlich eines Workshops für den Arbeitskreis „Mann und Sucht“ beim Landschaftsverband Rheinland ein Skript geschrieben. Workshop und Skript hinterließen nachhaltig Wirkung, wie ich von einem ehemaligen Kollegen erfuhr.  Auch meine Kollegen im ehemaligen ostwestfälischen Arbeitskreis „Männerspezifischer Suchtansatz“ waren bei einer Kurzvorstellung sehr angetan.

 

Für viele Suchtkranke ist eine Störung in der Beziehung zum Vater ein wesentlicher Faktor in der Entstehung von Sucht. Das Fehlen eines stabilen Vaterintrojektes zu Beginn der Pubertät erhöht meines Erachtens erheblich die Gefährdung durch die Herausforderungen der Jugend, zu denen das Erleben von Risiko und Grenzerfahrungen gehören. Und zu diesen Erfahrungen gehört auch Suchtmittelkonsum. Und andererseits ist die Wahrnehmung der „Vaterwunde“ und der Sehnsucht nach Vater oft ein zentraler Schritt in der Therapie, der Trauer, Durcharbeitung und Erschließung von neuen Schritten und Perspektiven, vielleicht gar Aussöhnung ermöglicht. Und letztlich gehört der Respekt vor väterlichen Autoritäten und Wirklichkeiten sicherlich zu den wichtigen Schritten beim Erwachsenwerden. Und schließlich geht es auch um den schützend-väterlichen Umgang mit sich selbst. Manches Mal verwende ich das Bild vom sich selbst beeltern.

 

Ein weiteres Thema ist dann schließlich noch die eigene Vaterrolle in der Therapie.

 

  • Echte Männerfreundschaft, gibt es das noch oder ist es im Zweifel doch eher harte Konkurrenz um Macht, Geld und Frauen?

Eine der bewegendsten Stunden meines ersten Durchgangs des Behandlungspfades „Männergruppe Nüchtern gut leben – Die Heldenreise der Abstinenz“ war die Stunde zum Thema „Männerfreundschaft – Weggefährten“.

 

Ob nun der Mangel wahrgenommen wurde, bestehende Freundschaften wertgeschätzt wurden oder Pläne geschmiedet wurden, ob und wie frühere oder bestehende Kontakte/Freundschaften gepflegt und intensiviert werden können. Die Männer waren selbst überrascht, wie sehr sie das Thema und die gefühlte Sehnsucht berührt hat. Und die meisten zeigten sich entschlossen, jetzt mehr für ihre Männerfreundschaften zu tun.

 

  • Haben Sie es bei Ihren Männern immer nur mit Alkoholsucht zu tun, oder welche anderen Süchte und Suchtmischungen stehen noch im Vordergrund?

Aktuell in der Barbarossa-Klinik sind es etwa 50 % Alkoholiker und 50% Drogenabhängige, meist mit Schwerpunkt Cannabis und Crystal, sowie verschiedene Designerdrogen…

 

  • Wie wird aus Ihrer Erfahrung Genuss zur Sucht und was können die Gründe dafür sein?

 

Eine große Frage, die kann ich gar nicht so kurz beantworten. Es ist eine Gemengelage von Faktoren, die in der Person und in der Gesellschaft liegen. Die Häufung von biographischen Konflikten und Belastungen ist ein Aspekt, der auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen trifft.

 

Anhand der beiden Fassungen des Kinderliedes „Hänschen klein“ versuche ich unterhaltsam zentrale Themen aufzuzeigen. Das Hänschen, das zum „Muttersohn“ verkümmert und der Mutter zuliebe zuhause – friedlich, vielleicht bekifft oder ritalingedämpft friedlich, ruhig und passiv bleibt und sich den Herausforderungen und Risiken des Lebens und „Initiationen“ nicht stellt und Sorgenkind wird – aus Liebe zur Mutter und ihren gesellschaftlichen Repräsentanzen – ist meines Erachtens eine weitverbreitete Variante. Eine provokante These von mir: „Für manche Frauen ist es leichter, um ein Sorgenkind zu trauern, als um eine unglückliche oder verlorene Liebe“.

 

Dr. Friedrich Ingwersen vertrat in einem Vortrag die These, das Sucht in unserer Gesellschaft auch ein Versuch der Seele ist, Initiation unbewusst nachzuholen: Sucht ist durch Grenzerfahrungen, Todesnähe und oftmals Wahnsinn geprägt und viele sterben daran – alles Elemente traditioneller Initiationsriten. Dieser Sichtweise kann ich gut folgen. 

 

Bezüglich Genuss, den wir alle brauchen, könnte ich noch einige Gedanken zum Thema „Ekstase“ anknüpfen. Robert A. Johnson hat unter diesem Titel ein inspirierendes Buch über eine „Psychologie der Lebenslust“ geschrieben. Er vertritt die These, das der Verlust der Fähigkeit, Ekstase zu kultivieren, wie z.B. einst im Dyonisos-Kult, zu Degeneration der Ekstase durch die Sucht führt und nennt auch den Bacchus Kult der Römer als Beispiel.

 

  • Gibt es genderspezifische Unterschiede in der Sucht? Sind die Hintergründe bei Männern und Frauen anders?

Auch diese Frage könnte umfangreich beantwortet werden. Zunächst mal gilt: „Ja“. Ich möchte nur auf einige Aspekte hinweisen, Risikoverhalten, Leistungsbereitschaft und –notwendigkeit ist noch viel stärker mit Männlichkeit verbunden, auch weil es von Bedeutung ist für die Resonanz, die sie damit bei Frauen erzielen – aber auch unter Männern. Entsprechend werden Drogen von Männern besonders eingesetzt, um leistungsfähiger zu sein, zu wirken, Gefühle von Schwäche (Angst, Schmerz, Trauer) zu kompensieren oder zu betäuben, sowie allgemein Männlichkeit durch Risikoverhalten, z.B. etwas vertragen können, unter Beweis zu stellen. Bei den meisten Suchtmitteln ist der überproportionale Anteil Männer.

 

Nur bei der Medikamentenabhängigkeit ist der Frauenanteil höher. Frauen setzen Suchtmittel tendenziell eher ein im Rahmen von Bindung und Beziehung,  um in einer Beziehung bleiben zu können, das auszuhalten, was sie ertragen (haben) oder mitzuhalten und locker zu sein. So nutzen sie zum Beispiel verstärkt Beruhigungsmittel und andere Psychopharmaka.

 

Insgesamt berichten die Statistiken jedoch von einer langsamen Annäherung der Geschlechter.

  • Ist Ihre Therapie nur für Männer gedacht, man könnte den Eindruck gewinnen, und wie würde diese dem weiblichen Empfinden angepasst?

Ich bin sehr geprägt durch die männerspezifische Drogentherapie in der ehemaligen Fachklinik Flammersfeld, sowie auch durch das Programm „Trauma und Sucht“, das ich in der Paracelsus-Wiehengebirgsklinik Bad Essen als Männergruppe mit eingeführt habe, das fließt alles in mein Ideenkonzept ein. Es startete jedoch als Behandlungsangebot zur Stärkung von Abstinenzmotivation und –zuversicht, sowie mit Vorgehensweisen in meiner ehemaligen gemischten Bezugsgruppe Smaragd, mit der ich u.a. ein unvergessenes „Fest der Nüchternheit“ feierte. 

 

In Sangerhausen halte ich am 14.März einen Vortrag zu meinem Konzept, vielleicht entsteht daraus ein gemischtgeschlechtliches Behandlungsangebot für Mitglieder  von Selbsthilfegruppen. Die Anfrage wurde an mich gerichtet und ich bin offen dafür. Letztlich entscheidet meine berufliche Praxis, was noch aus dem Konzept wird.

 

In  meinem Konzept geht es insbesondere um Fragen der Identität, des Selbstwertes und der praktischen, abstinenten Lebensbewältigung und dazu gehört zentral auch die Frage der geschlechtlichen Identität. So wird das Thema „Doing gender by drugs“ (durch Drogenkonsum geschlechtliche Identität herstellen/betonen) bei mir immer wieder thematisiert.

 

  • Ich erlebe Männer immer eher als Körper und „Erlebnisorientiert. Sie arbeiten anscheinend rein „psychologisch“ mit dem Geist, oder binden Sie auch den Körper, die Seele, mit in Ihrer Therapie ein und wie machen Sie das?

Ich arbeite aktuell als Gruppentherapeut in einer Bezugsgruppe für Alkoholabhängige und mehrfach Abhängige. Als gestalttherapeutisch ausgebildeter und körpertherapeutisch erfahrener Therapeut bemühe ich mich durchaus um die Einbeziehung von Körper und Seele, insbesondere immer wieder alleine in der Frage, „wie fühlt sich ein Gefühl körperlich an?“, „Was sagt ihr Körperausdruck?  …ihr Lächeln?“ Aus einer Fortbildung und einer Einzeltherapie in Somatic Experience habe ich weitere Inspirationen mitgenommen – mal abgesehen davon, was ich mir über all die Jahre teils bewusst, teils unbewusst von Therapeuten abgeschaut habe. Natürlich setze ich auch kleine Körperübungen oder den „Body Scan ein…“ Ich habe schon mit Patienten getanzt und gesungen, in der Schwitzhütte gesessen, „Powerwanderungen“ über mehr als 20 km gemacht, bin Klettersteige mit ihnen gegangen oder habe mit meinem Übergewicht den 26m Kletterturm in Andernach erobert…  Erleben ist mir sehr wichtig. Gerade in der Sucht hat es eine zentrale Bedeutung und: „Wissen ohne Erfahrung ist ein Hindernis“.

 

Ich freue mich, jetzt in der Barbarossa-Klinik zu arbeiten. Hier hat Erleben eine große Bedeutung und wird abgesehen von der Bezugsgruppentherapie in verschiedenen Behandlungspfaden, der Arbeitstherapie, Physiotherapie/Sport sowie in der Intensivtherapie “Hütte“ groß geschrieben.

 

In meiner Männergruppe „Nüchtern gut leben – Die Heldenreise“ finden sich die Seelenthemen insbesondere in der Atmosphäre der Gruppe, in der Thematisierung der Bedürfnisse, Konflikte, aber auch in den methodischen Elementen wie Zitaten, Geschichten, meditativen Texten, Alterskreis, Ritualen … .

Es geht mir ja gerade darum, in der Therapie Zugang zur Seele zu ermöglichen. Das spiegelt sich wieder in meiner Art therapeutische Beziehung zu gestalten, in meinen Vorgehensweisen, sowie in Themen von „Psycho“therapie – das ist ja gerade Seelentherapie und nicht nur Feststellen von Diagnosen und Verordnung von Rezepten… (ob medizinisch oder sonstwie „therapeutisch“).

 

  • Sehen Sie die Seele der Männer als verletzt an und wo sehen Sie wenn, die Ursachen dafür? Wo beginnt für Sie die Heilung dieser Wunden in Ihre Therapie?

Natürlich sind die Seelen der Männer verletzt, wie die Seelen der Frauen. Verletzung ist für mich ein Bestandteil des Menschseins. Joachim Lenz (von: Forsche Männer & Frauen - Büro für Beratung, Bildung, Forschung, Freiburg) wies jedoch 2015 auf einer FDR-Tagung in Berlin zurecht auf den „toten Winkel“ hin, in dem sich männliche Opfer (und weibliche Täter) gesellschaftlich befinden. Sein Resümee: Die Gesellschaft sei noch nicht reif dafür, männlichen Schmerz und Trauer anders wahrzunehmen und zu ertragen, denn in Form von Täterschaft/Kriminalität oder Krankheit/Sucht. Und so werden „Symptome“ gesellschaftlich (und therapeutisch) schnell und oft in die kranke Ecke interpretiert und so wird Kundschaft für die Ritalin und Psychopharmaka produzierende Industrie produziert. Meine These: Es fehlt gesellschaftliche und therapeutische Kompetenz für die Steuerung männlicher Emotionen und: Respekt vor der Würde männlicher Identität, insbesondere wenn sie sich in Form verletzlicher Männer zeigt.

 

Für mich beginnt die Heilung in der Schaffung eines angstarmen, sicheren Raumes, wo männliche Verletzbarkeit geschützt wahrgenommen und gewürdigt werden kann. Auf diesem Boden kann weitere Heilung passieren in Form von Traueraktivierung, Trost, weiterem emotionalem Ausdruck – auch von Wut – und vor allem: solidarischem Gemeinschaftserleben. Der männliche Schmerz braucht Anteilnahme, „Zeugenbewusstsein“ (in Anlehnung an Hans-Joachim Maaz) und: Akzeptanz im Gegensatz zu Bagatellisierung oder Dramatisierung.

 

  • Heldenreise, die meisten Männergruppen nehmen als Heldenreise die Geschichte vom Eisenhans. Sie bedienen sich des alten Kinderliedes „Hänschen klein“. Eine etwas seltsam anmutende Allegorie. Wollen doch alle Männer eher der wilde, starke eiserne Hans sein als denn ein kleines Hänschen.

Genau. Doch der starke Hans zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er sich seinem Schmerz stellt, seiner Trauer, seiner Schuld und seinen Narben. Hänschen ist vor Angst, dass ihm etwas passieren könnte auf Mamas Wohlfühlcouch geblieben und hat sich schließlich seinen Frust über ausgebliebenes Leben mit Alkohol oder Drogen betäubt. Und weil die Folgen ja so viel Mitleid erregen und er ein unselbständiges, „verkümmertes“ Hänschen bleibt, kümmert sich Mama weiter um den Kleinen. Will er erwachsen werden, muss er sich den Preis anschauen, den Schmerz und die Wunden, die dieses Lebens ihn kosten und gekostet haben und: sich aus Mamas Dunstkreis lösen – auch wenn Mama weint. Dann hat er eine Chance zu heilen, abstinent zu werden.

 

Der Hans, der in die Welt gezogen ist, kann auch süchtig geworden sein. Wir wissen nicht, was ihm in der Welt widerfahren ist. Trauma, Schuld, Scheitern … alles möglich. Auch, wenn er ein richtiger Kerl geworden ist. Aber er weiß: Ich habe meinen Mann gestanden. Vielleicht muss er den Mut aufbringen, sich bei der Konfrontation mit seinem Schmerz, seiner Trauer endlich schwach zu zeigen – Selbstfürsorge entwickeln… Auch wenn Papa oder andere Männer sagen: „Du Weichei.“  Dann muss er den „Krieger“ rausholen, um sich zu schützen.

 

Es braucht einen Akt der Emanzipation. Dieser Begriff stammt übrigens ursprünglich aus dem römischen Recht. Ein junger Mann lebte solange ohne eigene Rechte unter der „schlagenden Hand“ des Vaters, bis er sich seinem Vater entgegenstellte, der Vater es mit Angst bekam. Dann entließ ihn der Vater in den Stand des freien Erwachsenen mit allen Rechten. Auch das Wahlrecht hing damit zusammen. Diesen Akt nannte man ursprünglich „Emanzipation“.

 

  • Nehmen Sie altersspezifische Unterschiede in dem Suchtverhalten der Männer fest. Bedürfen junge Männer anderer Methoden und Ziele als Ältere, oder Alte?

In der ersten Stunde des zweiten Durchgangs meines Behandlungspfades setzten wir uns im Alterskreis. Ein Mann merkte sogleich an: die älteren Männer sind alle Alkoholiker, die jüngeren sind alle drogenabhängig. Natürlich gibt es Unterschiede und auch zielorientierte Methoden und Behandlungsangebote im Rahmen einer Entwöhnungsbehandlung. In der Männergruppe „Nüchtern gut leben-Die Heldenreise der Abstinenz“ können jedoch alle profitieren. Die Archetypen, die Grundseelenthemen ziehen sich durch das ganze Leben. Vom generationenübergreifenden Austausch profitieren die Patienten eher. Dies drückte sich auch in einer Rückmeldung aus: „Es war eine gute Erfahrung und ein guter Austausch zwischen Jung und Alt.“

 

  • Als letztes noch die Kelbraer Barbarossa Klinik, wo Sie derzeit arbeiten.
    Die „klassischen Suchtkliniken“ arbeiten doch eher sehr konservativ. Wie kam es zu der Idee der „Männergruppe“ in der Klinik?

In der Tat ist die Barbarossa-Klinik mit ihrem lebendigen Behandlungskonzept eine Besonderheit in der Kliniklandschaft. Mich zog es zunächst deshalb und schließlich auch wegen des aus Bad Herrenalb kommenden, Bondingtherapie erfahrenen Chefarztes und der Landschaft nach Kelbra in die Barbarossa-Klinik. Auch, dass es hier einen Kung-Fu Weltmeister mit einem Therapieangebot gab, fand ich klasse und letztendlich war hier noch Raum für Intensivtherapie: Die 4-tägige Hütte.

 

In so ein Umfeld passe ich mit meinem Arbeitsstil ganz gut – auch war Kelbra meine erste Station als Therapeut und ich war nicht mehr ganz fremd. Und für mich war die Möglichkeit, mein Konzept „Nüchtern gut leben“ weiter zu verfolgen, wichtig. Daran hatten auch zwei andere Kliniken Interesse.

 

Ich erhielt diesbezüglich von Beginn an von ärztlich-therapeutischer Leitung und Geschäftsführung volle Unterstützung – und Wertschätzung. Als der Start meines Behandlungspfades schließlich anstand, wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, die Gruppe auch als Männergruppe durchzuführen, es fehlte ein männerspezifischer Behandlungspfad. Vor meinem Hintergrund habe ich natürlich sehr gerne sogleich zugesagt.

 

Über den Autor

Jürgen Behring, geb.1958 in Lübbecke/Westfalen, Diplom-Sozialpädagoge/Suchttherapeut (mit familientherapeutischer und gestalttherapeutischer Qualifikation). (Langjährige Erfahrung u.a. in Bondingpsychotherapie, Aufstellungsarbeit und initiatisch-phänomenologischer Arbeit /ZIPAT). Seit 2000 tätig in der stationären Rehabilitation von Abhängigkeitskranken. 2006 – 2010 männerspezifische Drogentherapie Männertherapiezentrum Fachklinik Flammersfeld. Seit (Oktober) 2016 in der Barbarossa-Klinik Kelbra/Kyffhäuser. www.nuechtern-gut-leben.jimdo.com

 

KONFLIKTE NACH OPD (Operationalisierte

psychodynamische Diagnostik)

 

Als gut verstehbares Modell für die Konflikte der

Seele bietet sich auch ein Modell aus der Psychotherapie

an: Die Konflikte der psychodynamischen

Diagnostik (OPD). Sie erinnern uns daran, dass

wir in der Bewältigung unseres Lebens und der

Suche nach Erfüllung wesentlicher Bedürfnisse –

psycho-sozialer Bedürfnisse – oft hin und hergerissen

sind zwischen zwei Gegensätzen. Daraus

entsteht eine Anspannung, die sogenannte Konfliktspannung.

Diese Spannung kann zum Stress

– zum Dauerstress werden, wenn wir die beiden

Gegensätze nicht versöhnt bekommen. Die Konflikte

basieren oft schon auf frühen Grunderfahrungen

aus unserem Leben, aus unserer Kindheit, in unserer

Familie:

Das Bedürfnis frei und selbstbestimmt zu leben =

Freiheit/Autonomie steht im Konflikt mit dem Bedürfnis

nach Bindung und sicherer Zugehörigkeit,

Gemeinschaft.

Das Bedürfnis nach Selbstwert steht im Konflikt

mit dem Bedürfnis nach Lust/Entspannung und

geliebt werden ohne Leistungszwang (»Wer das

eine will, muss das andere tun«).

Das Bedürfnis nach Fähigkeit zur selbstbestimmten

Lebensorganisation/Autarkie (materielle

Sicherheit/Einkommen, aber auch gesundheitlich,

wohnen, Ernährung u.ä.) steht im Konflikt mit dem

Bedürfnis/Anspruch, dass andere für die Versorgung

da sein sollen (Fürsorge durch Eltern, Partner,

Staat) und Verpflichtungen damit verbunden sind.

Das Bedürfnis nach »Gut sein«, unschuldig sein,

steht im Konflikt mit der Realität von Schuld/

Schuldgefühlen. Schuld kann unterwürfig, masochistisch

übernommen werden oder auch geleugnet,

nicht an sich heran gelassen werden.

Das Bedürfnis nach Identität, dem Wunsch seiner

Persönlichkeit frei und besonders seinen eigenen

Ausdruck zu geben, steht im Konflikt mit dem Bedürfnis

unauffällig zu sein und keine besondere

Aufmerksamkeit durch Auffälligkeit auf sich zu

ziehen.

Das Bedürfnis, mit seinen erotischen und lustvollen

Bedürfnissen/Anteilen Aufmerksamkeit von

anderen zu gewinnen, steht im Konflikt mit Scham,

dem Bedürfnis nach Sicherheit der eigenen Grenzen

und Würde (genannt nach der Ödipus Sage »Ödipuskonflikt

«.

Und schließlich kann das Bedürfnis, überhaupt zu

fühlen sogar im Konflikt stehen mit dem Bedürfnis,

nichts mehr zu fühlen, weil die Gefühle zu bedrohlich

erscheinen (oder erschienen): eingeschränkte

Gefühls- und Konfliktwahrnehmung.