Nüchtern gut leben – Die Heldenreise der Abstinenz  

 

Grundgedanken (Stand 01.04.2017)

 

   1.       „Nüchtern gut leben“  ist eine erstrebenswerte Lebensweise. Im Gegensatz dazu stehen in der Regel Sucht, Idealisierung von Extremen, das Unrealistische, das Übertriebene, aber  auch Stagnation, Resignation, Destruktivität, Dogmatismus.

 

 2.       „Nüchtern gut leben“  integriert die Zielsetzung einer „nüchternen Lebensweise", im Sinne von ausbalanciert und die Realitäten anerkennend, mit einem als „gut“ empfundenen Leben, sowie dem Leben und Überleben an sich.  „Gut“ meint „gut genug“ – nicht vollkommen, sondern im Gegenteil. Durch die Integration bzw. Aussöhnung mit dem „Nicht-Guten“ und den Unvollkommenheiten gewinnt ein Leben erst die Qualität, die es zu einem „erfüllten Leben“ macht. „Nüchtern gut leben“ ist damit verwandt mit der „Spiritualität der Unvollkommenheit“ (Kurtz) der anonymen Selbsthilfegruppen im 12-Schritte Programm.   

 

3.       „Nüchtern gut leben“ versteht sich als Konzept von „Salutogenese“. (1) Sie orientiert sich auf den Weg eines erfolgreich genesenden Lebens unabhängig vom Ausgangspunkt.

 

4.       Die „radikale Akzeptanz“ (Marsha Linehan) der Lebensrealität von möglichem Scheitern ist sowohl eine zentrale Grundhaltung als auch Lebensweisheit, die inhaltlich und methodisch thematisiert, reflektiert und gestärkt wird. Sie wird als Voraussetzung gesehen, um die Handlungsenergie auf mögliche Lösungen zu richten.

 

5.       „Kapitulation“ (12-Schritte-Programm) ist in diesem Sinne eine geistig und vor allem emotional gelungene Wahrnehmung eines Zustandes, der einerseits ausweglos und unveränderbar, andererseits jedoch Verbesserung und Entwicklung offen lässt. Diese Verbesserung und Entwicklung ist jedoch im Moment der Wahrnehmung und Erfahrung von Kapitulation außerhalb jeglicher Kontrolle. Reflexion und stabilisierende Verankerung ist im Nachhinein  möglich. Affekte und Vorstellungen sind damit verbunden, aber nicht hinreichend als Veränderungskraft. Daher wird die Erfahrung der Kapitulation in einem Zustand von Involvierung oder gar autonomer Körperreaktionen (Ebenen therapeutischer Tiefung) herausgearbeitet, bzw. erlebnisaktivierend initiert (Z.B. Malen eines Tiefpunktes). Das setzt Vertrautheit und Sicherheit voraus: zum Zeitpunkt der Reflexion und Integration im Rahmen therapeutischer Arbeit.        

 

6.       Durch die „Lösungsorientierung“ auf die Möglichkeit eines „guten Lebens“ auch nach Kapitulation vermittelt „Nüchtern gut leben“ „Bewältigungszuversicht“. Die Möglichkeit  „Auch wenn nicht alles gut ist, lässt sich dennoch nüchtern gut leben“. „Scheißtage und Scheißzeiten, gut bewältigt, sind gute Tage und Zeiten!“. Modelle von Menschen und Menschentypen (u.a. Archetypen) werden in den Blick genommen, die gelungenes Leben verkörpern. Für Suchtkranke sind es zum Beispiel zunächst abstinente Suchtkranke, dann offensichtlich zufrieden, gut lebende abstinente Suchtkranke. Sie werden als „Helden“ gewürdigt. Auch abstinente Zeiten der Einzelnen werden gewürdigt und das Gelungene  in den Blick genommen.

 

7.       "Energie folgt der Aufmerksamkeit" (Émile Coué) Dieser Satz des französischen Apothekers, Autors sowie Begründers der modernen, bewussten Autosuggestion ist einer der Leitgedanken. Damit wird konsequent die „Resourcenorientierung“ in den Mittelpunkt gerückt. Nicht die Krankheitsbewältigung, sondern die Lebensbewältigung ist das Ziel. Kapitulation wird bei negativer Bewertung individuell mit Scham, Scheitern und dem Verlust von Würde und „Vollkommenheit“ durch den empfundenen Mangel, das Leid oder den „Defekt“ verbunden (zumindest im Moment der Ausweglosigkeit und Ohnmacht).

 Durch das Bild des Helden (s.o.) wird der Kapitulation ein kraftvolles Bild als Vision entgegengesetzt, das Inspiration zu neuen Sichtweisen ermöglicht. Gut bewältigte Schwierigkeiten sind Erfolge, bewältigte Kapitulation ist Heldentum! „Der Beweis von Heldentum liegt nicht im Gewinnen einer Schlacht, sondern im Ertragen einer Niederlage.“ (David Lloyd George, 17.01.1863 - 26.03.1945)

 

8.       „Nüchtern gut leben“ beinhaltet Aufklärung, Information und Bewusstsein über Realitäten. Eine wesentliche Realität ist der Zusammenhang von Körper, Geist und Seele. Zentrale Realitäten sind Bedürfnisse und (insbesondere psychosoziale) Konflikte. Durch Thematisierung und Bewusstwerdung der eigenen „authentischen“ Bedürfnisse  und Konflikte strebt „Nüchtern gut leben“ die Stärkung von „Veränderungsmotivation“  im Sinne von „Entwicklungsmotivation“ an. (2) (Psychotherapeutisch sind insbesondere die „psychosozialen Grundbedürfnisse“ nach Klaus Grawe und Dr. Konrad Stauss Grundlage, sowie die Konflikte nach OPD - Operationaliserte psychodynamische Diagnostik)

 9      „Nüchtern gut leben“ thematisiert den Weg in ein gutes Leben als reifes, "erwachsenes" Leben. Der Weg wird verkörpert durch das uralte Bild der „HELDENREISE“. Ein Bild, das als ein Grundmuster von Mythologien weltweit vor allem der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell (1904–1987) bekannt gemacht hat. Christoph Vogler entwarf den Weg des Helden als Anleitung für Drehbuchautoren, welche insbesondere in Hollywood Beachtung findet. Sein Konzept basiert auf dem von Joseph Campbell entworfenen Modell der „HELDENREISE“ und bietet eine leicht verständliche „Reiseanleitung“. (3)

 10.   „Nüchtern gut leben“ thematisiert die Themen eines guten Lebens. Im Mittelpunkt stehen dabei insbesondere die „Archetypen“, die insbesondere von Walther Mauckner im Rahmen von ZIPAT (Zentrum für Initiatisch-Phänomenologische Arbeit und Therapie) als Schwerpunkt in der Seminarreihe „Heldenreise des Mannes“ thematisiert und ausformuliert werden: „Heiler“, „Vater“, Wilder Mann“, „Krieger“, „Liebhaber“, „Mystiker“, König“. Mit den Archetypen werden „Seelenqualitäten“ bildhaft verkörpert, wie sie auch in den Grundbedürfnissen nach Grawe und Stauss aufgeführt werden. (4)

 11.   „Nüchtern gut leben“ versteht sich als „Initiatisch-Phänomenologische Suchttherapie“. Es beinhaltet die „Initiation“ als Prozess der Einführung und Bewusstwerdung in zentrale Themen des Menschseins und der zunehmend „reifen“, „erwachsenen“ Lebensbewältigung: „Nüchtern gut leben“. „Phänomenologisch“ meint zunächst, das allein durch die Wahrnehmung und Bewusstwerdung von Realitäten Veränderung und intrinsische Veränderungsmotivation wächst.  Und Wahrnehmung und Bewusstwerdung sind entscheidend von Erfahrungen, von Erleben abhängig. Darum haben erlebnisaktivierende therapeutische Methoden und Erfahrungsräume einen besonderen Stellenwert. "Wissen ohne Erfahrung ist ein Hindernis".

 

12.   „Nüchtern gut leben“ versteht sich „potentialorientiert“ in der Tradition der „Humanistischen Psychologie“. Ausgehend von der Überzeugung und Erfahrung der „Kraft des Guten“ (Carl Rogers) strebt das Konzept an, den Einzelnen zu inspirieren, sein grundsätzliches Potential zu vergrößern, das Leben zum Besseren zu entwickeln – sei es im Sinne von Handlungsfähigkeit oder von Bewältigungsfähigkeit von Schicksal. (siehe auch: Potentialorientierte Psychotherapie  - Dr. Wolf Büntig). 

 
 

Anmerkungen:

 

(1)   Wikipedia: Salutogenese (lateinisch salus ‚Gesundheit‘, ‚Wohlbefinden‘ und -genese, also etwa „Gesundheitsentstehung“) bezeichnet einerseits eine Fragestellung und Sichtweise für die Medizin und andererseits ein Rahmenkonzept, das sich auf Faktoren und dynamische Wechselwirkungen bezieht, die zur Entstehung und Erhaltung von Gesundheit führen.[1] Der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1923–1994) prägte den Ausdruck in den 1980er Jahren als komplementären Begriff zu Pathogenese. Nach dem Salutogenese-Modell ist Gesundheit nicht als Zustand, sondern als Prozess zu verstehen. Risiko- und Schutzfaktoren stehen hierbei in einem Wechselwirkungsprozess [2]

 

(2)    Psychotherapeutisch sind insbesondere die „psychosozialen Grundbedürfnisse“ nach Klaus Grawe und Dr. Konrad Stauss Grundlage, sowie die Konflikte nach OPD- Operationalisierte psychodynamische Diagnostik).

 

 

 

KONFLIKTE NACH OPD (Operationalisierte psychodynamische Diagnostik)

 

 Als gut verstehbares Modell für die Konflikte der Seele bietet sich auch ein Modell aus der Psychotherapie an: Die Konflikte der psychodynamischen Diagnostik (OPD). Sie erinnern uns daran, dass wir in der Bewältigung unseres Lebens und der Suche nach Erfüllung wesentlicher Bedürfnisse – psycho-sozialer Bedürfnisse – oft hin und hergerissen sind zwischen zwei Gegensätzen. Daraus entsteht eine Anspannung, die sogenannte Konfliktspannung. Diese Spannung kann zum Stress – zum Dauerstress werden, wenn wir die beiden Gegensätze nicht versöhnt bekommen. Die Konflikte basieren oft schon auf frühen Grunderfahrungen aus unserem Leben, aus unserer Kindheit, in unserer Familie.

 

Sie sind auch Kernthemen in den Modulen von „Nüchtern gut leben-Die Heldenreise der Abstinenz“:

 

Das Bedürfnis frei und selbstbestimmt zu leben = Freiheit/Autonomie  steht im Konflikt mit dem Bedürfnis nach Bindung und sicherer Zugehörigkeit, Gemeinschaft.

 

Das Bedürfnis nach Selbstwert steht im Konflikt mit dem Bedürfnis nach Lust/Entspannung und geliebt werden ohne Leistungszwang („Wer das eine will, muss das andere tun“).

 

Das Bedürfnis nach Fähigkeit zur selbstbestimmten Lebensorganisation/Autarkie (materielle Sicherheit/Einkommen, aber auch gesundheitlich, wohnen, Ernährung…) steht im Konflikt mit dem Bedürfnis/Anspruch, dass andere für die Versorgung da sein sollen (Fürsorge durch Eltern, Partner, Staat) und Verpflichtungen damit verbunden sind.  

 

Das Bedürfnis nach Identität, dem Wunsch seiner Persönlichkeit frei und besonders seinen eigenen Ausdruck zu geben steht im Konflikt mit dem Bedürfnis unauffällig zu sein und keine besondere Aufmerksamkeit durch Auffälligkeit auf sich zu ziehen.

 

Das Bedürfnis, mit seinen erotischen und lustvollen Bedürfnissen/Anteilen Aufmerksamkeit von anderen zu gewinnen, steht im Konflikt mit Scham, dem Bedürfnis nach Sicherheit der eigenen Grenzen und Würde (genannt nach der Ödipus Sage „Ödipuskonflikt“.

 

 Und schließlich kann das Bedürfnis, überhaupt zu fühlen sogar im Konflikt stehen mit dem Bedürfnis, nichts mehr zu fühlen, weil die Gefühle zu bedrohlich erscheinen (oder erschienen): eingeschränkte Gefühls- und Konfliktwahrnehmung.

 

 

 

(3)    Der Zyklus der Heldenreise nach Vogler

 

  1. Ausgangspunkt ist die gewohnte, langweilige oder unzureichende Welt des Helden.   

  2. Der Held wird von einem Herold zum Abenteuer gerufen.    

  3. Diesem Ruf verweigert er sich zunächst.   

  4. Ein Mentor überredet ihn daraufhin, die Reise anzutreten, und das Abenteuer beginnt.    

  5. Der Held überschreitet die erste Schwelle, nach der es kein Zurück mehr gibt.    

  6. Der Held wird vor erste Bewährungsproben gestellt und trifft dabei auf Verbündete  und Feinde.  

  7. Nun dringt er bis zur tiefsten Höhle, zum gefährlichsten Punkt, vor und trifft dabei auf den

    Gegner.  

  8. Hier findet die entscheidende Prüfung statt: Konfrontation und Überwindung des Gegners.  

  9. Der Held kann nun den „Schatz“ oder „das Elixier“ (konkret: ein Gegenstand oder abstrakt:       besonderes, neues Wissen) rauben.

  10. Er tritt den Rückweg an, während dessen es zu seiner Auferstehung aus der Todesnähe  kommt.  

  11. Der Feind ist besiegt, das Elixier befindet sich in der Hand des Helden. Er ist durch das  Abenteuer zu einer neuen Persönlichkeit gereift.  

  12. Das Ende der Reise: Der Rückkehrer wird zu Hause mit Anerkennung belohnt.  

 

 

Für den Suchtkranken könnte eine Übersetzung lauten:

 

  1. Ausgangspunkt: Wahrnehmung von Unbehagen, Problematik, Gefahr des bisher geführten  "gewohnten Lebens". Leben das zunehmend wahrgenommen wird als langweilig, unglücklich oder gefährlich.

  2. Aufforderung zur Veränderung: Es entsteht „Druck“ oder ein Appell – der „Ruf“ etwas zu tun: Wachsender VERÄNDERUNGSDRUCK  auf das Problem – hier die Abhängigkeit.

  3. WIDERSTAND, ZWEIFEL, LEUGNUNG gegen notwendige Konsequenzen im Ringen  mit HOFFNUNG, ZUVERSICHT, EINSICHT . 

  4. NÜCHTERNHEIT: Die Entscheidung zur Veränderung fällt, die Reise der Verhaltensänderung beginnt – oft bedingt durch den Einfluss eines Helfers.  

  5. ERSTE SCHRITTE – Es gibt kein Zurück mehr.  

  6. BEWÄHRUNGSPROBEN: Verbündete auf dem Weg und Gefährder („Feinde“) werden zunehmend erkannt. Enttäuschungen, Rückschläge sind zu verarbeiten, Beziehungen zu klären.

  7. Die „K R I S E“, der gefährlichste aber auch entscheidende Punkt. Der Hauptgegner – z.B. die eigene Gefahr wird deutlich erkannt – das Ausmaß der eigenen Abhängigkeit, die (Sucht-)Geschichte und die Folgen für das eigene Leben werden wahrgenommen, die eigene Wirklichkeit radikal akzeptiert („RADIKALE AKZEPTANZ“).

  8. KONFRONTATION, BEWÄLTIGUNG und ÜBERWINDUNG der Sucht.

  9. Der GEWINN DER ABSTINENZ („DER SCHATZ“) wird wahrgenommen und erlebt.

  10. RÜCKWEG IN DAS LEBEN: Auferstehung, Genesung und Abschied aus dem „Leben in Todesnähe“.

  11. NÜCHTERNHEIT– DAS ELIXIER bestimmt das Handeln des Helden – des abstinenten Suchtkranken: ERWORBENE BEWÄLTIGUNGSKOMPETENZEN und neue LEBENSWEISHEIT.

  12. Das Ende der Reise: Zu Hause erfährt der Held ANERKENNUNG, FÜLLE, FREUDE: „DAS FEST DER NÜCHTERNHEIT" im "Königreich der Abstinenz".

 

  (4) ARCHETYPEN NACH ZIPAT (W.Mauckner , Buch: „Andreas Schick, „Selbsterfahrung Mann“)
 

Ein Mann begegnet auf der Heldenreise den sieben Kernthemen seiner männlichen Seele. Jedes Kernthema steht in Verbindung mit einem inneren Archetypen. Daran angelehnt stehen folgende SEELENTHEMEN im Mittelpunkt der HELDENREISE „Nüchtern gut leben“:

 

HEILER:                                  KAPITULATION – Mitgefühl und Verletzbarkeit  

 

VATER:                                   STRUKTUR – Stärke, Halt und Unterstützung  

 

WILDER MANN:                   FREIHEIT – Unabhängigkeit und Wildheit  (Lösung von der Mutter)  

 

KRIEGER:                              TATKRAFT – Wille, Entschlossenheit, Konfliktbewältigung   

 

LIEBHABER:                          LEIDENSCHAFT – Freude, Glück, Lust und Liebe    

 

MYSTIKER:                            SINN – Weisheit und Spiritualität    

 

KÖNIG:                                   WERT – Fülle, Verantwortung, Wertschätzung