Aus TROKKENPRESSE 05/2021, erschienen am 15.10.2021

 

Nüchtern gut leben - Die Heldenreise der Abstinenz

 

Abstinenz, Nüchternheit    eine Heldenreise?

 

Viele erkennen diese Verbindung nicht. Überhaupt, der Begriff Heldenreise, „Held“, hat der wirklich etwas mit Sucht zu tun?

 

Für mich als Suchttherapeut erschloss sich die Perspektive der Heldenreise aus einem Männerprojekt, das ich als Fortbildung über 15 Monate 2006 - 2008 auf Empfehlung meines Klinikleiters Rainer Koch-Möhr absolvierte. Die Arbeit mit oft durch Kriminalität geprägten drogenabhängigen Männern in der Fachklinik Flammersfeld, 80-90% mit §35 aus der Haft direkt in die Therapie gekommen, forderte neue Qualitäten als Therapeut. Bis dahin war ich vor allem durch das 12-Schritte Programm und das Bad Herrenalber Umfeld geprägt.

 

Jahre später, mittlerweile schon einige Jahre in einer etablierten Suchtklinik in Bad Essen tätig, u.a. mit Schwerpunkt Trauma und Sucht („Sicherheit finden“ für Männer) begann ich eine eigene Idee umzusetzen, zunächst als Indikativgruppenkonzept: „Nüchtern gut leben“. Daraus wurde schließlich „Nüchtern gut leben – Die Heldenreise der Abstinenz“.

 

„Abstinent leben“ – Ist das gutes Leben?

 

Die Frage stellen sich Patienten oft in der Therapie. Am Beginn ihres Weges in die mögliche Abstinenz. Ich habe viele abstinente Süchtige kennen gelernt. Und viele – nicht alle! – strahlten eine Zufriedenheit und eine Würde aus, ein gewisses „Etwas“, dass mir Anlass gab, mit großem Respekt Ihr Leben und die Bewältigung ihrer Abstinenz zu betrachten.

 

Abstinenz ist für einen Süchtigen nicht selbstverständlich. Viele schaffen es nicht. Im Angesicht dieser Gefahr die notwendigen Schritte zu tun, bedarf Mut, insbesondere Demut, Bereitschaft und Konsequenz... und und und... Viele Suchtkranke scheitern, weil sie den Weg der Abstinenz und auch sich selbst unter- oder überschätzen.

 

Mit gutem Willen allein ist es nicht getan. Der Weg in die Abstinenz erfordert konsequente Auseinandersetzung mit der Realität - zunehmend nüchterne Auseinandersetzung – und ihre Bewältigung. Die Wege in die Abstinenz mögen für jeden unterschiedlich sein. Eines sind sie nicht - selbstverständlich. Darum - und noch aus weiteren Gründen – trifft für die Abstinenz meines Erachtens der Begriff  Heldenreise.

 

 

 

Respekt und Würde

 

Keine Krankheit beschädigt das Selbstwertgefühl, sowie insbesondere Respekt und Würde so, wie die Sucht. Keine Krankheit erzeugt so viel Scham, weil es peinlich ist, sich nicht beherrschen zu können, weil man die Kontrolle im Umgang mit Suchtmitteln und mit sich selbst verloren hat und oft genug Dinge tut, die man vom Wesen nicht tun will oder wollte. Mitleidiger, unangemessen kontrollierender und herablassender, abwertender Umgang mit Suchtkranken schwächen und sind, auch wenn „gut gemeint“, eben oft genug das Gegenteil von gut.

 

„Heldenreise der Abstinenz“ ist ein Begriff, der sich um einen anderen Umgang mit der Sucht bemüht. Heldenreise macht bewusst, dass es um die Meisterung von Herausforderungen geht. Und Heldenreise ist ein Konzept, das in vielen Zusammenhängen genutzt wird, um Veränderungs- und Reifungsprozesse darzustellen und Orientierung zu geben, sowie für die eigene Entwicklung zu nutzen, ob in der Psychotherapie, Selbsterfahrung oder dem Managementseminar. 

 

Jeder abstinente Suchtkranke hat allen Grund stolz zu sein, sich seiner Würde angesichts erreichter Abstinenz gewiss zu sein. Und verdient und braucht (!) Respekt dafür –  den Respekt von Anderen, aber auch vor allem von sich selbst. Und er benötigt auch den Respekt vor der Sucht und den Herausforderungen, die sich stellen beim Weg in die Unabhängigkeit. Der Begriff Heldenreise drückt Respekt und Würde aus.

 

 Conny Vry

 

Conny Vry, ein 2015 85 Jahre alter, langjährig trockener Alkoholiker und Therapeut in der Paracelsus-Wiehengebirgsklinik Bad Essen, war ein Praktiker, der Klartext reden konnte. Mit Phasen von Krankheit und Beeinträchtigung kam er bis Mai 2015 noch fast jede Woche in die Klinik um aus der Praxis abstinenter Lebensbewältigung zu berichten. Und: er gewann „Fans“ und stieß auf Kritik bei anderen Patienten, denen seine klare Sprache zu hart war. Als ich ihm zum Abschied eine Karte schrieb, fasste ich zum Schluss sinngemäß so zusammen, was für mich seine Faszination und Wirkung ausmachte: „Conny, Du hast den Patienten vermittelt, dass man abstinent gut leben kann, auch wenn nicht immer alles gut ist.“

 

Aus dieser Formulierung entstand schließlich der Titel für eine Indikationsgruppe, die ich übergangsweise in der Klinik anbieten sollte: „Nüchtern gut leben“. Ich bekam Freiheit, sie zu gestalten und parallel zur Auseinandersetzung mit privaten, besonderen Ereignissen  entwickelte ich einige Ideen, welche Themen in eine praxisnahe Gruppe zur Abstinenzbewältigung hineingehören. Daraus wurde schließlich ein Rohkonzept, dass ich später unter dem Titel „Nüchtern gut leben-Die Heldenreise der Abstinenz“ zusammenfasste und ab Oktober 2016 in der Barbarossa-Klinik-Kelbra mit viel positiver Resonanz in der therapeutischen Praxis umsetzte.

 

 

 

Spiritualität der Unvollkommenheit

 

Persönlich habe ich den Anonymen Alkoholikern, dem 12-Schritte Programm viel zu verdanken. Es inspirierte mich und half mir in ganz unterschiedlichen Lebensphasen nach einer einschneidenden Lebenskrise 1987. Ich ging auf meine „Heldenreise“. Eine Beschreibung für den Genesungsweg, der so schön deutlich macht, dass es bei Heilung nicht um schmerzstillende Pflaster und Beruhigungspillen geht (- und alles ist wieder gut…), sondern um Herausforderungen, Erkundung, Begegnungen. Schritt für Schritt, so gut es geht, nicht ohne Stolpern, Scheitern, Schranken - Unvollkommenheit bleibt. Das zu erkennen und zu akzeptieren scheint mir schließlich ein zentraler Aspekt des Weges. Kurtz/Ketcham haben den Begriff der „Spiritualität der Unvollkommenheit“ bekannt gemacht.

 

Conny Vry lebte für mich „Nüchternheit“ vor. Er hatte einiges durchgestanden, Unvollkommenheit integrieren müssen: ich wusste von einigen Krankheiten/Operationen, die er im hohen Alter durchzustehen hatte. Aber er nahm sie an und als er aufgrund seiner schwindenden Sehkraft nicht mehr persönlich in die Klinik fahren konnte, ließ er sich von seiner Frau fahren und berichtete weiter mit der ihm eigenen Lebendigkeit und Begeisterung für ein abstinentes Leben, dass auch getragen war von einer spirituellen – christlichen Grundhaltung.

 

Erfüllte Abstinenz

 

Nüchternheit und gutes Leben finden also durchaus zusammen. Ich kannte es von vielen trockenen, cleanen Süchtigen, nicht immer, aber sehr oft.  Für viele Suchtkranke in der Entwöhnungsbehandlung, an der Schwelle vom alten, aussichtslosen, zunehmend leidvollen Leben mit Suchtmitteln zu einem möglichen neuen Leben in der Abstinenz scheint das oft nicht möglich. Abstinenz wird als Verzicht, als Ende alten, genussvollen Lebens gesehen. Als schambesetzte Unfähigkeit „normalen“ Lebens mit Alkohol und Stoff. Und die Schritte in die Abstinenz werden als Zumutung, Kränkung, Überforderung erlebt. Und für viele abstinente Süchtige, die ich kennenlernen durfte, schien ein frohes, lebendiges Leben gar nicht so einfach. Sicher zum Teil, weil die jahrelange Sucht Schäden auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene – Narben hinterlassen hat.  Weil  vielleicht auch festgehalten wird am Erfolg der Abstinenz  und weitere Schritte der Genesung nicht weiter gegangen werden.  Oft lese ich vom Kampf mit der Sucht. Manche Facebook Seite und auch öffentliche Suchtprävention warnt vor den schlimmen Folgen von Suchtmitteln und klärt darüber auf.  Als wenn die Warnung vor Gefahr abschrecken würde! Für viele ist das Spiel mit dem Feuer, das Risiko gerade reizvoll beim Weg in die Sucht!

 

So wie Conny Vry als 85jähriger ein plastisches Beispiel für gutes, nüchternes, erfülltes  Leben ist, erkannte ich auch für mich auf meiner lebenslangen Reise, dass Nüchternheit etwas sehr erstrebenswertes ist und: Nüchternheit ist durchaus lebendig und hat viele Facetten. Zum Beispiel gehören Freude, vielleicht sogar Euphorie, auf jeden Fall auch „gesunde Verrücktheit“ zu einem nüchternen Leben dazu, wie auch Schmerz, Leid und Ohnmacht. Wenn wir diese Gefühle ohne Suchtmittel in individuellen, sicheren, realistischen Grenzen  leben, haben wir ein erfülltes Leben. Ein erfülltes Leben, das nichts vermeiden muss und nicht alles haben muss.  Da werden schmerzhafte Erfahrungen unter einer guten Sinngebung zu nützlichen Etappen und normalen Herausforderungen, die durchgestanden die Erfahrung von Stolz ermöglichen. „Scheißtage gut bewältigt sind gute Tage.“ formulierte ich 2015. Unserem Leben eine gute Deutung zu geben, uns Bedeutung zu geben, was immer das Leben uns abverlangt, gibt uns erst den Frieden, den Einklang, das Glück mit dem gut da zu sein, was ist. Und die oberste Priorität von Leben ist Leben. Insofern ist nüchternes Handeln vor allem auch das Handeln, das unserem Leben und dem Leben allgemein dient. Das Überleben ist ein wesentlicher Bestandteil. Die Orientierung darauf, als Erwachsener für Kinder verantwortlich in Liebe da zu sein. Und noch viel mehr. Da ist man nicht immer zufrieden, muss es vielleicht auch gar nicht sein, erst recht nicht in der Abstinenz. Daher bevorzuge ich statt dem Begriff der „Zufriedenen Abstinenz“ lieber „Erfüllte Abstinenz“. Und die beinhaltet so viel mehr.

 

Soweit ein paar zusammengefasste Gedanken zur Idee, zum Konzept von „Nüchtern gut leben-Die Heldenreise der Abstinenz“. Als Indikationsgruppenkonzept „Männergruppe Nüchtern gut leben –Die Heldenreise der Abstinenz“ hat es sich unter meiner Leitung 2016 -2020 in der Barbarossa-Klinik-Kelbra über vier Jahre mit weitgehend sehr positiver Resonanz bewährt. Als Facebook Seite findet die Idee seit März 2017 stetig wachsenden Anklang. Auf einer Homepage habe ich einiges zusammengetragen. Was daraus noch wird, ist aktuell offen.

 

Jürgen Behring, Diplom-Sozialpädagoge/Suchttherapeut (VDR), 63 J., seit 1.10.2020 tätig in der AH-Suchtberatung/SOMATRiX Drogenberatung Brandenburg an der Havel. www.nuechtern-gut-leben.de, juergenbehring@nuechtern-gut-leben.de .