"Hänschen klein"

INITIATION und INDIVIDUATION.

   

https://www.youtube.com/watch?v=M2byY76uCg0

 

Wer diesem Link folgt wird vielleicht erstaunt sein über den Text des altbekannten Kinderliedes "Hänschen klein". Ich stieß auf diesen Text erstmals im Mai/Juni 2015 und sah darin zentrale Themen von Suchttherapie:

 

 

INITIATION und INDIVIDUATION.

 

 

 Initiation: der rituelle Übergang von einer Lebensstufe zur nächsten, der mit Symbolen von Tod und Wiedergeburt vollzogen wird.

 

Individuation: die Entwicklung und Reifung der individuellen Persönlichkeit im Verlauf des Lebens.

 

 

Hier zunächst erstmal der Text dieses alten, ursprünglichen

 

"Hänschen klein":

  

Hänschen klein
Ging allein
Stock und Hut
Steht ihm gut,
Ist gar wohlgemut.
Doch die Mutter weinet sehr,
Hat ja nun kein Hänschen mehr!
„Wünsch dir Glück!“
Sagt ihr Blick,
„Kehr’ nur bald zurück!“

 

Sieben Jahr
Trüb und klar
Hänschen in der Fremde war.
Da besinnt
Sich das Kind,
Eilt nach Haus geschwind.
Doch nun ist’s kein Hänschen mehr.
Nein, ein großer Hans ist er.
Braun gebrannt
Stirn und Hand.
Wird er wohl erkannt?

  

Eins, zwei, drei
Geh’n vorbei,
Wissen nicht, wer das wohl sei.
Schwester spricht:
„Welch Gesicht?“
Kennt den Bruder nicht.
Kommt daher sein Mütterlein,
Schaut ihm kaum ins Aug hinein,
Ruft sie schon:
„Hans, mein Sohn!
Grüß dich Gott, mein Sohn!“

  

Diese Fassung beschreibt den Initiationsprozess zum Erwachsenen, dem eine reife Mutter zustimmen kann. Sie weint, dass „Hänschen“ mit ca. 14 Jahren in die Welt hinaus zieht, um z.B. eine Lehre zu beginnen, auf Wanderschaft zu gehen, sich den Gefahren dieser Welt zu stellen. Sie weiß nicht, ob das alles gut gehen wird, aber – sie stimmt ihm zu! 

Im Juli 2016 stieß ich bei Professor Franz Ruppert in "Symbiose und Autonomie" genau auf den gleichen Bezug. Vor vielen Jahren hörte ich in einem Vortrag von Dr. Friedrich Ingwersen erstmals den Zusammenhang von (Sucht)Krankheit und Initiationsriten. Initiationsriten konfrontierten den Jugendlichen mit Risiko und Gefahr, auch mit Gefahr ,die tödlich sein und mit Wahnsinn enden kann. Quintessenz: Die Suchtkrankheit kann als unbewusste Suche nach Initiation verstanden werden. Viele kommen darin um, wer in der Abstinenz angekommen ist, hat einen wichtigen Reifungsprozess zum Erwachsensein durchlaufen. Und: er muss mit "Narben", Einschränkungen, Scham und Schuld leben  - das gehört dazu. 

Genau das das hat Hänschen erlebt, wenn er in die Welt hinaus zieht (früher mit 14 Jahren), für eine Ausbildung, Wanderjahre und Abenteuer, vielleicht Krieg. Wenn  er dann lebend wieder kommt, ist er jemand anderes - die reife Mutter erkennt ihn. Die Schwestern nicht mehr - ist ja kein Junge mehr. 

Demgegenüber bindet die bekanntere Fassung von "Hänschen klein" den Sohn "symbiotisch" an die Mutter. (Mutter weinet sehr, da besinnt sich das Kind, läuft nach Haus geschwind...) Sie macht sich ja Sorgen, dass etwas passieren könnte. Bleibt das Kind in der Sorge der Mutter (und ich erweitere Mutter mal mit dem krisenfeindlichen Helfersystem) gefangen, fehlen ihm wichtige Reifungsschritte. Es bleibt unglücklich, weil es den Aufgaben des Lebens schließlich nicht standhält. 

 Es betäubt seine Scham- und Schuldgefühle, Trauer... mit Suchtmitteln oder bekommt Psychopharmaka zur Regulierung der vibrierenden Emotionen. (Eine neue Hypothese -2016- von mir: Die vibrierenden Emotionen, sind ursprünglich die Energie, die in die Welt hinausstreben - auch zu anderen Bindungen. Zu den Gefahren der Welt gehört das Abenteuer des (in der Regel) anderen Geschlechts - die Sexualität. Nicht ohne Grund ist die Pubertät noch einmal die Phase mit einem erhöhten Oxytocinausstoss ("Bindungshormon").  

 

Hänschen klein kann vieles machen, worauf das Umfeld mit "Oh Gott, oh Gott" reagiert. Auch einfach unübliche , "verrückte" Sachen. Die Jugend ist von solchen Verrücktheiten geprägt. Und als Suchttherapeut war ich erstaunt zu erleben, wie wichtig es Patienten (und Kollegen) ist, nichts "Unnormales" zu tun, nicht vom Üblichen abzuweichen. Das gilt für Jugendliche auch in der Peergroup. Eine initatische Krise beinhaltet den Schritt der Individuation, man entwickelt sich aus dem bisherigen heraus - Erwachsene wissen darum. Nur: Unsere Gesellschaft ist leider voller Abwehr der Individuation. (Bly: "Die kindliche Gesellschaft") Und das Geschäft, abhängig zu machen und Leid scheinbar zu verhindern, blüht. Exemplarisch sei der Trend zu immer mehr Kaiserschnittgeburten und das "Durchimpfen gegen Kinderkrankheiten" genannt. 

Im Sufismus spricht man von "Krisendiebstahl". Das Ergebnis wird sein: Die Krisen werden größer! Der Krieg gegen den Terror ist auf globaler Ebene das passende Bild.

Was heisst das alles für den Prozess von Heilung und Genesung, für die Bewältigung von Krisen? 

Meines Erachtens brauchen wir "erwachsene" Helfer. Bejahung von Symptomen und Leid, sowie Begleitung soweit möglich.

 

Ich litt aufgrund eigener Betroffenheit (von psychischer Erkrankung) oft  mit meinen Patienten, deren Symptome manches Mal von Kollegen abgewertet wurden. Symptome, die zur Lebensgeschichte gehören und vor deren Hintergrund verstehbar werden können.

 

Andererseits forderte ich meine Patienten und mich neu: "Hören Sie auf zu jammern über Ihre Symptome, ihr Leid... die gehören zum Leben dazu" - Stichwort "Radikale Akzeptanz"/Marsha Linehan. (Natürlich habe ich es je nach Patient angemessen zum Ausdruck gebracht - die Reaktion war sehr positiv. Das war Realität!)

Es kam noch manches an Gedanken und Impulsen dazu, u.a. die Auseinanderstzung mit dem Thema Schuld, Schuldgefühle und "Kainsmal".

 

Soweit erstmal. Vieles wäre hier noch zu sagen.... und auszuformulieren.
 

 

 

"Eine Krise ist ein produktiver Zustand.

Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen."

Max Frisch (1911-1991)

 

 

Zur Erinnerung hier noch mal der bekannte Text von "Hänschen klein":

 

Hänschen klein
ging allein
in die weite Welt hinein.
Stock und Hut
steht ihm gut,
er ist wohlgemut.
Doch die Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr!
Da besinnt
sich das Kind,
kehrt nach Haus’ geschwind.